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1587-1608: Kindheit und Jugend
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* 22. Oktober (jul.)/1. November 1587 in Lübeck
† 23. September (jul.)/3. Oktober 1657 in Hamburg
Jungius wurde am 22. Oktober 1587 in Lübeck geboren. So steht es in allen Nachschlagewerken seit Guhrauer 1850. Johannes Moller schrieb 1744, Jungius habe in der Nacht, die auf den 21. Oktober folgte, oder in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober das Licht der Welt erblickt (Moller 1744 III, 342). Martin Fogel berichtete 1658 noch genauer: Er wurde in Lübeck im Jahr des vorigen Jahrhunderts 1587 geboren, mitten in der Nacht zwischen dem 21. und 22. Oktober, genau[er gesagt] um ein Viertel nach der ersten [Stunde]. (Fogel 1658, 9) Zwischen Fogel und Moller liegen fast, zwischen Moller und Guhrauer noch einmal über 100 Jahre. Da die jüngeren Schreiber dem älteren nicht widersprechen, können wir davon ausgehen, dass ihnen keine Quellen zur Verfügung standen, die etwas anderes behaupteten und somit Fogel als die zuverlässigste Quelle ansehen.Was heißt das aber nun? Um das genauer zu verstehen, müssen wir die Stundenzählung kennen, die Fogel verwendete, die Datumszählung und den Kalender. Die letzte Frage ist die einfachste: Die Angabe muss sich vor 1700 in den protestantischen Städten Norddeutschlands auf den Julianischen Kalender beziehen. Um ein gregorianisches Datum zu erhalten müssen wir zehn Tage hinzuzählen. Nun kommt die etwas schwierigere Abwägung: Wann war die erste Stunde der Nacht? Noch Moller geht der Entscheidung aus dem Weg und benennt die Nacht mit dem Datum eines oder beider benachbarter Tage. Aber aus unserer Sicht gehörte diese Nacht bis Mitternacht zum 21. und von da an zum 22. Oktober. Glücklicherweise macht Fogel uns die Sache leicht und spricht von der Mitte. Die erste Stunde begann also wohl mit der Mitternacht, wie es auf mechanischen Uhren leichter einzustellen und abzulesen war und nicht wie bei Sonnenuhren und in der religiösen Zeitrechnung üblich mit dem Sonnenuntergang, denn dann wäre die erste Stunde zu Anfang und nicht in der Mitte der Nacht gewesen.
Somit ist das Geburtsdatum 22. Oktober im Julianischen Kalender vermutlich richtig, es entspricht dem 1. November des Gregorianischen Kalenders. Was seinen Tod betrifft, schrieb Fogel: Er schied aber am 23. September dahin um das dritte Viertel der elften nächtlichen [Stunde]. (Fogel 1658, 14) Wir würden heute von 22.45 Uhr sprechen; der 23. September des Julianischen entspricht dem 3. Oktober des Gregorianischen Kalenders.
Vater: Nicolaus Jungius († 1589)
Mutter: Brigitta Nortmann, geb. Holdmann, verw. Jungius
Halbschwestern: Anna Klintworth, geb. Nortmann; Dorothea Bihlefeldt, geb. Nortmann
Schulbesuch bis 1605 am Katharineum in LübeckJoachim Jungius war der Sohn von Nicolaus Jungius und Brigitta, geb. Holdmann. Seinen Vornamen hatte er vermutlich nach seinem Großvater mütterlicherseits erhalten, dem Lübecker Dompastor Joachim Holdmann. Nicolaus Jungius war Lehrer an der Lübecker Schule, dem Katharineum (Fogel 1658, 9).
Bereits im Jahr 1589, Joachim war vielleicht noch keine zwei Jahre alt, wurde Nicolaus Jungius ermordet. Fogel berichtet: Als er nämlich von einem Treffen fröhlich nach Hause aufbrach, wurde er von einem Unbekannten versehentlich mit dem Schwert niedergemacht, der überzeugt war, es sei sein Konkurrent. (Fogel 1658, 9) Die genaueren Umstände dieses Zwischenfalls sind unbekannt: Weder wissen wir, um welche Art von Konkurrent es sich handelte, ob ein Liebeshandel dahintersteckte oder Geld, vielleicht auch ein Amt, noch können wir nachvollziehen, warum er Nicolaus Jungius dafür hielt und inwiefern es sich um ein Versehen handelte. Jungius, von dem Fogel diese Information bekommen haben muss, hat es entweder selbst nicht mehr gewusst oder nicht mehr dazu sagen wollen.
Jungius’ Mutter heiratete bald wieder: Martin Nortmann, einen Kollegen von Nicolaus Jungius am Katharineum. Ihre Briefe an Jungius unterschrieb sie später „Birgitta Nort[t]mans“. Mit Nortmann hatte sie zwei Töchter: Anna und „Doratia“ (Dorothea) (Jungius/Rothkegel 2005, 42).
Joachim Jungius besuchte als Schüler das Katharineum und galt nach Fogels Bericht als eine Art Wunderkind: Er sei ein Autodidakt gewesen und habe besonders in der Logik geglänzt (Fogel 1658, 9). Laut Moller nahmen sich der Rektor Otho Gualtperius und der Subrektor Joachim Drenckhan seiner an und ersetzten gewissermaßen den Vater. Das Talent zur Logik zeigte sich darin, dass Jungius seinen Mitschülern die Dialectica des französischen Logikers Petrus Ramus erklärte. (Moller 1744 III, 342) Auch sprachlich war Jungius offenbar begabt, denn er schrieb Tragödien, von denen uns eine erhalten ist (Lucretia) und hielt im Jahr 1605 eine viel bewunderte Rede gegen die Redekunst, für eine gesunde und wahre Sprache (NJJ : Pe. 4).
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1606–1618: Studienzeit
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Studium der Philosophie von 1606–1608 in Rostock und Gießen
Abschluss: 1608 als Magister Artium der Universität GießenIm Mai 1606 schrieb Jungius sich an der Universität Rostock ein, die damals die Landesuniversität nicht nur Mecklenburgs war, sondern quasi auch der umliegenden Hansestädte, besonders Lübecks und Hamburgs.
In Rostock bestand wie anderswo das alte System der vier Fakultäten fort: Die Philosophische oder Artistenfakultät bot eine Art Grundausbildung und als üblichen Abschluss den Magister Artium. „Artium“ und „Artisten“ bezog sich auf die sieben freien Künste (artes liberales). Die anderen drei Fakultäten waren die Theologie, die Rechtswissenschaft und die Medizin. Diese Fächer schloss man i. d. R. mit einem Doktorgrad ab. Allerdings war es in Rostock üblich, nur zu studieren und für den Abschluss an eine renommiertere Universität zu wechseln. So hielt es auch Jungius.
Rostock hatte einen guten Ruf in den Rechtswissenschaften, in der Theologie galt Rostock als Hochburg der Wittenberger (lutherischen) Orthodoxie. Das ist wichtig, weil gelegentlich bezweifelt wurde, dass Jungius Lutheraner gewesen sei, aber es gibt keinen äußeren Hinweis auf das Gegenteil. Auch die Universität Gießen, an die Jungius zum Abschluss seines Philosophiestudiums wechselte, war als lutherische Konkurrenzgründung zur calvinistischen Marburger Universität im geteilten Hessen gedacht.
In die Rostocker Zeit fällt nach Fogels Deutung Jungius’ Entscheidung, die Metaphysik abzulehnen und sich der Mathematik zuzuwenden. Durch alle erhaltenen Werke zieht sich dieses Anliegen wie ein roter Faden: Die Metaphysik sei unwissenschaftlich und rein spekulativ, der Fortschritt müsse von der klar strukturierten und streng beweisenden Mathematik ausgehen.
Am 10. April 1608 bezog Jungius die Gießener Universität, die als fortschrittlich und gut ausgestattet galt. Am 22. Dezember schloss er sein (erstes) Studium mit dem Magister Artium ab. Von den Absolventen dieses Semesters war Jungius der beste (Fogel 1658, 10).
1609–1614: Professor der Mathematik in Gießen
1614/1615: Schulreformversuche in Augsburg
1615/1616: Schulreformversuche in LübeckAm 5. November 1609 wurde der erst 23jährige Jungius überraschend zum Professor der Mathematik in Gießen berufen. Allerdings war das wohl nicht nur ein Ausdruck der Wertschätzung für einen talentierten jungen Gelehrten, sondern zeigte auch den geringen Stellenwert, den die Mathematik hatte. Bei seinem Amtsantritt redete Jungius wie schon aus Anlass der Promotion über die Wissenschaft, die den Menschen zum Menschen mache und vom Tier unterscheide. In seiner Antrittsrede bekannte er sich erstmals als Anhänger des copernicanischen Weltbilds (Guhrauer 1850, 19–20).
Zur Mathematik gehörten nach damaliger Auffassung auch Fächer, die wir heute eher zur Physik zählen: Astronomie, Optik, Mechanik. Sie wurden als Mathematica mixta zusammengefasst. Wegen ihrer technischen Bedeutung wurden Mechanik und gelegentlich Optik auch als „mathematische Magie“ verstanden. Für Jungius gehörten Astronomie und Optik zu seinen Obliegenheiten als Mathematikprofessor.
Im Juli 1612 wurde er gemeinsam mit seinem Kollegen Christoph Helwig zum Reichstag nach Frankfurt a. M. geschickt. Dort begegnete er dem Schulreformer Wolfgang Ratke, der einen Weg entwickelt hatte, jede Sprache innerhalb eines Jahres zu erlernen. Jungius, Helwig und einige Jenaer Kollegen setzten sich mit diesem Ansatz auseinander und veröffentlichten dazu 1613 ein Gutachten. Am 26. April 1614 gab Jungius seinen Lehrstuhl auf und ging mit Helwig (der sich hatte beurlauben lassen) und Ratke nach Augsburg, wo das Ratkesche Konzept in die Tat umgesetzt werden sollte (Wohlwill 1888, 49–50).
Jungius und Helwig überwarfen sich mit Ratke. Die Gesamtsituation dabei ist etwas unklar. Ratke ließ sich wohl nicht gerne in die Karten schauen und war überaus misstrauisch, außerdem herrisch. Helwig zerstritt sich heftig mit Ratke und ging rasch aus Augsburg nach Gießen zurück. Er ließ später in seinen Briefen an Jungius kaum ein gutes Haar an Ratke. Der ruhigere Jungius blieb bis zum Sommer 1615 in Augsburg und kehrte im Juli nicht nach Gießen, sondern nach Lübeck zurück (Guhrauer 1850, 38–45).
Nach einem erfolglosen Versuch, in Lübeck die Ratkesche Lehrkunst durchzusetzen oder wenigstens einige Verbesserungen in der Schule anzubringen, entschloss sich Jungius ein weiteres Mal zu studieren, diesmal Medizin.
Studium der Medizin von 1616–1618 in Rostock und Padua
Abschluss: 1618 als Doctor medicinae in PaduaIn Rostock gab es damals drei medizinische Lehrstühle, von denen einer mit dem Amt des Stadtphysicus zusammenfiel (er wurde von der Hansestadt Rostock finanziert), ein weiterer mit dem des Leibarztes des mecklenburgischen Herzogs (vom Herzog finanziert). Dieser Leibarzt war auch Professor der Höheren Mathematik, während die Niedere Mathematik an der Philosophischen Fakultät angesiedelt war (Asche 2000, 107).
Aus einem Brief von Jungius’ Mutter vom 11. (jul.)/21. März 1617 ist zu ersehen, dass Jungius kurz nach seinem Umzug nach Rostock an einem Fieber erkrankte. Es handelte sich vermutlich um ein Wechselfieber ähnlich der Malaria, wie sie früher auch in Nordeuropa verbreitet waren (z. B. als „Deichfieber“ bei Deichbauarbeiten).
1618 ging Jungius gemeinsam mit Hermann Westhoff zum Abschluss seines Studiums nach Padua. Westhoff stammte ebenfalls aus Lübeck und blieb Jungius sein Leben lang freundschaftlich verbunden. Er wirkte als Arzt in Lübeck und starb 1655.
Die Universität Padua gehörte der Republik Venedig an und wurde vor dem Zugriff der Kirche geschützt. Mit der Bulle In sacrosancta hatte Papst Pius IV. 1564 angeordnet, dass nur Katholiken zum Doktor promoviert werden dürften. Venedig umging diese Anordnung zunächst, indem es stattdessen Urkunden von einem Pfalzgrafen ausstellen ließ, gewährte 1587 deutschen Studenten Glaubensfreiheit, um ihrer Abwanderung vorzubeugen und verbot 1591 dem Jesuitenorden öffentliche Lehrveranstaltungen, nachdem es zu Tumulten gekommen war. 1616 gelang es durch das Engagement Paolo Sarpis, Doktorurkunden auctoritate Veneta auszustellen. Fortan war die Bedeutung Paduas als Studienort deutscher Protestanten in Italien gesichert (Rossetti Universität Padua 1985, S. 40–41).
Viele Rostocker studierten eine Zeitlang in Padua, das in der Medizin einen guten Ruf hatte, besonders wegen des fast fünfzigjährigen Wirkens Fabricius’ ab Acquapendente, der 1594 das berühmte Anatomische Theater bauen ließ, das erste seiner Art (Rossetti 1985, 29–30). Es diente als Vorbild auch des Anatomischen Theaters von Leiden; die Rostocker Mediziner hatten wiederum gute Beziehungen zu den niederländischen Anatomen.
Jungius und Westhoff schrieben sich am 11. August in Padua ein und wurden im September in Ämter der „deutschen Nation“ an der Universität gewählt: Westhoff als Consigliere, Jungius als Procuratore (Kassenwart). Am 22. Dezember wurde Jungius zum Doktor der Medizin promoviert unter dem Vorsitz des bekannten Arztes Santorio Santorio (Fogel 1658, 11).
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1619–1628: Arzt und Professor in Rostock und Helmstedt
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1622 Gründung der Societas Ereunetica sive Zetetica
Am 7. Februar 1619 oder kurz danach reisten Westhoff und Jungius aus Padua ab und besichtigten Italien und einige deutsche Städte, bevor sie nach Deutschland zurückkehrten. Jungius wurde Ende August 1619 wieder als Mitglied der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock aufgenommen, 1621 auch in den Lehrkörper (Fogel 1658, 12). Im Jahr 1622 praktizierte er als Arzt in Rostock, Westhoff in Lübeck (Jungius/Rothkegel 2005, 60).
Wichtig wurde für Jungius in dieser Zeit die Societas Ereunetica sive Zetetica. Es handelte sich dabei um eine wissenschaftliche Gesellschaft, die wohl nach dem Vorbild der Accademia dei Lincei gestaltet wurde, die Jungius in Italien kennengelernt hatte und deren bekanntestes Mitglied sicherlich Galileo Galilei war. Besonders im Briefwechsel mit seinem Freund Johann Adolf Tassius drehte sich zwischen 1622 und 1629 fast alles um diese Gesellschaft, für die forschende Mitglieder als auch wohlhabende Förderer, Kontaktleute an verschiedenen Universitäten, festangestellte Laborgehilfen und ein Doxoscopus angeworben werden sollten; einige der Kandidaten sagten auch zu. Tassius verteilte einzelne mathematische Forschungsaufgaben und offenbar wurden deren Lösungsansätze auch verschickt (Jungius/Rothkegel 2005, 10–11).
Der Name der Gesellschaft lässt sich am besten mit „Forschungsgesellschaft“ übersetzen, denn die griechischen Verben ἐρευνάω und ζητέω treffen sich in etwa in der Bedeutung „erforschen“. Sowohl Platon als auch der spätantike Neuplatoniker Proklos stellten beide Verben zusammen, um das unbekanntere durch das bekanntere zu erläutern und somit die Bedeutung im konkreten Zusammenhang zu bezeichnen Procl. Comm. Parm. IX 672, 6). 1533 wurde Proklos’ Kommentar zu Euklids Elementen ediert und diente fortan als Beweis dafür, dass die antike Geometrie nicht notwendiger Weise eine Anwendung der aristotelischen Logik zu sein brauchte, sondern ebenso gut eigenständig und ohne Rückgriff auf Aristoteles gedeutet werden konnte.
Zetetica war der Titel eines Werks des französischen Mathematiker François Viète, in dem er in Anlehnung an seinen griechischen Vorgänger Diophant das Rechnen mit Buchstaben erklärte, eine Kunst, die Jungius in seiner Gießener Zeit erlernt hatte (Fogel 1658, 11).
Bemerkenswert ist auch, dass nach Diogenes Laërtios der antike Skeptiker Pyrrhon von Elis seine Schule nicht nur „skeptisch“, sondern auch „zetetisch“ nannte (Diog. Laert. Vit. IX, 69–70). Diese Form der Skepsis unterschied sich von der „akademischen Skepsis“ dadurch, dass sie gar keine sicheren Aussagen machen wollte, auch nicht die, dass es keine sicheren, bewiesenen Aussagen geben könne. Sie war in der Antike unter Ärzten beliebt und wurde sehr ausführlich beschrieben von dem Arzt Sextus Empiricus. In Jungius’ Bibliothek fand sich bei seinem Tod noch ein Exemplar von Sextus’ Adversus mathematicos (Meinel 1992, 182 #1004).
10. (jul.)/20. Februar 1624: Hochzeit mit Katharina Havemann
1624 heiratete Jungius Katharina Havemann, eine Rostocker Bürgerstochter (Fogel 1658, 13). Bereits Anfang Dezember 1623 schrieb er – kurz nach der Verlobung – an Simon Paulli, einen Verwandten der Braut, um ihm Hilfe im akademischen Bereich anzubieten. Die Paulis waren eine bedeutende Medizinerfamilie, und oft genug konnten familiäre Bindungen in Rostock Zugang zu Lehrstühlen verschaffen. Ganz allgemein bildeten die Gelehrten- und Ratsfamilien, zu denen neben den ratsfähigen Familien auch Pastoren, Professoren und Ärzte zählten, eine eigene, weitgehend abgeschlossene soziale Gruppe in vielen größeren Städten. Zugang verschaffte den Zugezogenen der akademische Grad, zusammengehalten wurde sie von der lateinischen Sprache und oft genug durch Eheschließungen. Persönliche Bindungen entstanden dabei auch durch rhetorisch oft sehr ausgefeilte Briefwechsel (Asche 2000, 469–471).
Paulli antwortete am 7. (jul.)/17. Januar aus Leiden und schickte ein mathematisches Werk als Geschenk an Jungius: den Typhon Batavus von Willebrord Snell. Simon Paulli profitierte wahrscheinlich von diesem Kontakt mehr als Jungius, aber er hätte ohnehin Karriere gemacht. An der Philosophischen Fakultät gab es damals sogenannte „Nominalprofessuren“, die eine Anwartschaft („Exspektanz“) auf einen der „Höheren“ Lehrstühle (in Medizin, Theologie oder Rechtswissenschaften) mit sich brachten und deren Inhaber deshalb oft über ihre eigentlichen Lehrverpflichtungen hinaus bereits zu diesen Themen Unterricht abhielten. Für Professorensöhne war es nicht unüblich, die Lehrstühle ihres Vaters zu erben und bis zu dessen Ruhestand die Nominalprofessur zu bekleiden. Simon Paulli wurde später Medizinprofessor in Rostock und dann Leibarzt des dänischen Königs, ein ebenfalls nicht ungewöhnlicher Schritt für Rostocker Mediziner (Asche 2000, 476–477; 109).
Wenn Jungius beabsichtigt hatte, in Rostock Professor der Medizin zu werden, vielleicht gar den Lehrstuhl zu erlangen, der mit dem Unterricht der Höheren Mathematik verbunden war, so hatte er eigentlich alles richtig gemacht: Er war als Mathematiker bekannt und hatte einen medizinischen Abschluss, seinen Doktorgrad hatte er im Ausland erhalten, sogar im wohl anerkannten Padua, europäisches Zentrum besonders der Anatomie, er interessierte sich intensiv für Botanik und Mineralogie und bekannte sich offen zu den Leistungen Galens, außerdem heiratete er in die einschlägig bekannte Gruppe ein, sogar in die Medizinerfamilie Pauli und befreundete sich eng mit Johann Quistorp (1584–1648), einem etwa gleichalten Mitglied einer anderen bedeutenden Gelehrtenfamilie. Im frühen 17. Jahrhundert waren neben den sozialen die akademischen Voraussetzungen einer Medizinerkarriere eben gerade diese: Gute Kenntnisse der Anatomie und der Pflanzenheilkunde sowie der Leistungen Galens (Asche 2000, 58).
1624–1625 Professor für Niedere Mathematik in Rostock
1625–1626 Professor der Medizin in Helmstedt
1626–1628 erneut Professor für Niedere Mathematik in RostockJungius war bereits am 24. Juli (jul.)/3. August 1623 auf den Lehrstuhl für Niedere Mathematik in der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock berufen worden und hatte den Ruf am 25. Oktober (jul.)/4. November angenommen. Am 6. (jul.)/16. Februar 1624 trat er diese Stelle an. Jungius zögerte also verhältnismäßig lange, sich endgültig in Rostock niederzulassen, aber mit der Stelle und der Hochzeit sah es im Februar 1624 so aus als hätte er seinen Zugang zu einer Lebensstellung gefunden. Zuvor hatte ihm in einem Brief vom 22. Juli (jul.)/1. August 1623 sein Freund Johann Garmers (1586–1638) bereits davon abgeraten, sich als Arzt in Hamburg niederzulassen oder sich um eine Stellung am Akademischen Gymnasium zu bemühen.
Im Herbst 1624 jedoch brach in Rostock die Pest aus und Jungius floh davor wahrscheinlich im Oktober nach Lübeck. Etwa zur gleichen Zeit schlug Johann Adolf Tassius vor, dass beide nach Helmstedt wechselten, wo Jungius die Medizinprofessur in Aussicht gestellt sei. Quistorp, der die Briefe von Tassius in Rostock entgegennahm, sandte sie Jungius nach Lübeck nach, nicht ohne ihm zu empfehlen das Angebot abzulehnen.
Bereits Ende November 1624 teilte Jungius brieflich mit, er werde eine solche Berufung in Helmstedt nun annehmen und kehrte kurz darauf nach Rostock zurück, um seinen Umzug zu regeln. Der Rostocker Rat versuchte ihn zu halten und verzögerte seine Entlassung. Diese Geschäfte zogen sich fast über das ganze Jahr 1625 hin bis Jungius im Oktober erneut vor der Pest fliehen musste, diesmal aus Helmstedt. Jungius hielt sich einige Zeit in Braunschweig und dann in Wolfenbüttel auf, während seine Frau in Braunschweig blieb. Anfang des Jahres 1626 erbot sich Quistorp, Jungius’ Rückberufung auf die unbesetzte Mathematikprofessur in Rostock zu erreichen, doch dieser Ruf erging erst im September.
In Rostock gehörte es auch zu Jungius’ Aufgaben, die Stadt gegen die drohende Kriegsgefahr zu schützen. Es sind uns Baupläne und Kostenvoranschläge für eine neue Befestigungsanlage überliefert (Wohlwill 1888, 54–55). Zwischen April und Juli 1628 reiste Jungius auf der Flucht vor Wallensteins Truppen nach Lübeck ab, spätestens im Oktober wurde ihm das „Doppelrektorat“ in Hamburg angeboten.
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1629–1640: „Doppelrektor“ der Hamburger Höheren Schulen
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18. (jul.)/28. November 1628: Jungius nimmt den Ruf nach Hamburg offiziell an
19. (jul.)/29. März 1629: Jungius tritt das Amt mit einer Rede anDie Zeit um den Jahreswechsel 1628/29 herum war der bedeutendste Einschnitt in Jungius’ – wenn schon nicht Leben, so doch: wissenschaftlicher Karriere. Der Hamburger Senat hatte entschieden, das Akademische Gymnasium nicht zu schließen – das war seit Jahren angedacht gewesen – sondern gründlich zu reformieren. Sie suchten nach einem Rektor, der sowohl diese Reform durchführen sollte als auch das Johanneum leiten und die Lehre an beiden Schulen koordinieren. Hamburg, eine Hochburg des orthodoxen Lutheranismus, trat damit in Konkurrenz zu Rostock und verlor die erste Wahl für das Doppelrektorat, Johann Huswedel, an diese Universität, obwohl man sogar das Gehalt auf 1000 Talern im Jahr angehoben hatte. (Professoren an einer Universität verdienten damals etwa 100–300 Taler). Auf Betreiben von Johann Garmers wurde dann Jungius nach Hamburg berufen.
Wie man in den Briefen aus dieser Zeit nachverfolgen kann (vgl. Jungius/Rothkegel 2005), bemühte sich Jungius, die Societas ereunetica nach Hamburg zu verlegen, indem er seine engsten Mitarbeiter dort versammelte. Es gelang ihm, Johann Adolf Tassius die Professur der Mathematik zu beschaffen und er versprach Johann Klein die Professur der Rhetorik. Allerdings nahm Klein einen Ruf innerhalb der Rostocker Universität an. Nach diesem Zeitpunkt gibt es keinen Nachweis der Societas ereunetica mehr, die zuvor in den Briefen zwischen Jungius und Tassius eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Natürlich ist es möglich, dass die beiden in Hamburg persönlich darüber sprachen, aber auch von Klein ist bis zu seinem plötzlichen Tod durch ein Fieber im Jahr 1631 kein weiterer Brief erhalten, der die wissenschaftliche Gesellschaft erwähnt.
Seit ca. 1630: Streitigkeiten mit dem Geistlichen Ministerium
Neben dem eigenen Unterricht – Jungius erhielt neben dem Rektorat die Physikprofessur – war es auch die Aufgabe des neuen Rektors, die Schulordnung zu überarbeiten. Mit seinem Antritt 1629 oder kurz danach noch im selben Jahr trat eine erste Veränderung in Kraft, eine zweite Schulordnung stammt aus dem Jahr 1634. Verschiedentlich sind auch in den Makulaturen im Nachlass Fragmente von Entwürfen oder Reinschriften zu finden.
Aus dieser Zeit stammen auch verschiedene Reden, deren Inhalt sich mit der Schule beschäftigten. Jungius kritisiert darin das um sich greifende Privatschulwesen, dessen Qualität nicht gut genug sei und das den öffentlichen, vom Senat finanzierten Schulen schade. Für seine Schulen setzte Jungius sich auch beim Senat ein (Hübner 1995, 10). Auch das Klima im Kollegium und unter den Schülern machte Jungius zum Thema einer Rede und rief darin zur Einigkeit auf. Vielleicht gaben Spannungen mit einzelnen Kollegen Anlass dazu.
In der Schulordnung sah Jungius auch vor, einen Teil des Griechisch-Unterrichts auf das Lesen eines heidnischen Autors zu verwenden; er schlug unter anderen den Satiriker Lukian von Samosata als Lektüre vor. Das Geistliche Ministerium warf Jungius daraufhin vor, das Neue Testament aus dem Unterricht verdrängen zu wollen. (Ausführlich wird die ganze Auseinandersetzung dargestellt und Jungius’ Verteidigungsschrift abgedruckt in Jungius/Geffcken 1655.) Gleichzeitig zog er sich vermutlich auch den Zorn einiger Kollegen zu, die sich bei der Ausarbeitung der Unterrichtspläne übergangen fühlten. Jungius führte zu seiner Verteidigung jedoch an, dass er seinen Logikunterricht auch am Beispiel von Paulus-Briefen betreibe und damit ebenfalls das Neue Testament auf Griechisch unterrichte. Auch das kann man im Nachlass nachverfolgen.
Eine zweite Front eröffnete Jungius’ Beichtvater, Sigismund Philo Schelhammer, als er 1635 Jungius die Absolution verweigerte. Jungius musste als Rektor des Johanneums den Schulchor bei Leichenbegängnissen anführen und hatte dies bei einer oder einem Calvinisten getan.
1635: Die ersten 3 Bücher der Logica Hamburgensis erscheinen
1638: Alle 6 Bücher der Logica Hamburgensis erscheinen gemeinsamEine weitere Aufgabe des neuen Rektors war es, ein Logik-Lehrbuch für den Gebrauch der Hamburger Schulen zu entwickeln. Dabei hatte Jungius strenge Auflagen des Scholarchats (Schulbehörde) zu erfüllen, die ihn dazu veranlassten, dem Werk den Titel „Hamburger Logik“ zu geben, um deutlich zu machen, dass es sich mehr um das Werk der Hamburger als sein eigenes handelte. Die 6 Bücher korrespondieren mit den 6 logischen Werken von Aristoteles. Eine erste Ausgabe, die nur die ersten 3 davon enthielt, erschien 1635, ab 1638 und in allen weiteren Ausgaben waren dann alle 6 Bücher enthalten.
In der zweiten Hälfte der 1630er Jahre eskalierte der Streit mit dem Geistlichen Ministerium und einigen Kollegen, von denen 3 ganz besonders beteiligt gewesen sein sollen. Von diesen ist aber nur Bernhard Werenberg namentlich greifbar. 1637 stellte Jungius in einem Anhang einer öffentlichen Disputation mehrere Fragen vor, die Werenberg zuvor heimlich hatte behandeln lassen, darunter diejenige, „ob das Neue Testament vor Barbarismen strotze“. Jungius erklärte, er habe diese Frage gegenüber der von Werenberg gestellten abgeschwächt. Sie zielte dennoch darauf ab, dass Jungius mit seinem Beharren auf heidnischer Lektüre impliziert hätte, das Griechisch des Neuen Testaments sei weniger „reines“ Griechisch als dasjenige der Heiden und somit durch den Sprachgebrauch der frühen Christen barbarisiert worden. Zudem verwies Jungius diese Angelegenheit an die Sprach[wissenschaft]en, womit er nahelegte, der Ethikprofessor Werenberg habe seine Kompetenzen überschritten. Auch andere Fragen, die Werenberg verhandelt hatte, konnte Jungius anderen Fächern zuweisen. Werenberg war sogar so weit gegangen, rein theologische Streitfragen öffentlich von Schülern verhandeln zu lassen, obwohl der Senat das ausdrücklich untersagt hatte.
Bereits nach dem Erscheinen der Erstausgabe der Logica Hamburgensis von 1635 hatte der Wittenberger Theologe Johann Scharf begonnen, seine Schüler Disputationen gegen Jungius abhalten zu lassen. Später vermutete er, dass Scharf von der Hamburger Geistlichkeit aufgehetzt und finanziert worden sei. Nachdem Jungius sich beim Hamburger Senat gegen deren Vorwürfe verwahrt hatte, wandte sich das Geistliche Ministerium an die Universität Wittenberg und Johann Scharf griff ab 1638 auch den Streit um die griechische Sprache in seinen gegen Jungius gerichteten Werken auf. Nach 1639 jedoch verhielt Jungius sich ruhig und überließ es seinen Schülern, sich zu diesen Angelegenheiten zu äußern.
16. (jul.)/26. Juni 1638: Katharina Jungius stirbt
Zu Jungius’ Verhaltensänderung trug womöglich auch die Krankheit und der Tod seiner Frau 1638 bei. Der Witwer widmete sich stärker seinen wissenschaftlichen Interessen und gab schließlich 1640 auch das Rektorat des Johanneums und damit die Zuständigkeit für die jüngeren Schüler auf.
Katharina Jungius war seit mehreren Jahren krank. Wir erfahren aus zwei Briefen des Rostocker Arztes Christian Schmilow mehr über die Symptome dieser Krankheit, die von ihm als „Melancholie“ bezeichnet wurde. Katharina litt unter Gefühlen des Eingesperrt- oder Verfolgtseins und befürchtete auch, man trachte nicht nur ihr, sondern auch ihren Verwandten nach dem Leben. In einigen Fällen hatte sie auch geglaubt, Stimmen ihrer Verwandten und Freunde zu hören, die um Hilfe riefen oder von ihrem Tod berichteten. Die Ärzte hatten versucht, sie zur Einnahme von Medikamenten zu überreden, vermutlich Beruhigungsmitteln, aber dies lehnte sie regelmäßig ab. Therapieansätze, sie mit der Unrichtigkeit ihrer Wahnvorstellungen zu konfrontieren, zeigten ebenfalls keinen Erfolg – man wird hier eine organische Komponente vermuten, denn aus der Frühen Neuzeit existieren zahlreiche Berichte über Therapieerfolge mit diesem Ansatz. Im März 1637 gelang es Joachim, trotz anhaltender Versuche, mit ihr zu sprechen und sie durch ausgedehnte Spaziergänge im Garten zu beruhigen, nicht mehr, Katharina davon zu überzeugen, dass ihre Schwester lebte und wohlauf sei. Daraufhin schickte er sie zu ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Rostock, wo sie einige Monate lebte. Nachdem sich Katharinas Zustand zunächst gebessert hatte, erlitt sie spätestens im Sommer einen weiteren Schub und glaubte nun, Joachim Jungius sei tot, woraufhin sie schließlich nach Hamburg zurückgeschickt wurde. Ihre Schwester gab allerdings zu, dass sie nun sehr gut verstehe, wie schwer es Joachim gefallen sein muss, sich um Katharina zu kümmern.
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1640–1657: Lebensende und wissenschaftliche Arbeit
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16. (jul.)/26. Juli 1640: Jungius gibt das Rektorat des Johanneums auf
1644/45: Charles Cavendish in Hamburg
1647/48: Erste Briefwechsel über die Mira Ceti
4. (jul.)/14. Januar 1654: Johann Adolf Tassius stirbt
1656 oder 1657: Jungius stürzt
23. September (jul.)/2. Oktober 1657: Joachim Jungius stirbt in HamburgDie letzten Jahre von Joachim Jungius’ Leben verliefen äußerlich eher ereignislos. Als Witwer nahm er keine Schüler in seinem Haus auf, obwohl das damals eine übliche Einkommensquelle von Professoren war. Jungius hatte das aber wegen seines hohen Gehalts auch kaum nötig. Mit der Aufgabe der Leitung des Johanneums musste er auch die Rektorenwohnung aufgeben, die er bis dahin bewohnt hatte, aber er handelte mit dem Senat aus, dass seine Bezüge in gleicher Höhe weiterhin gezahlt würden und dass er zudem 300 Taler jährlich für die Miete oder den Kauf eines Hauses erhielte. Etwa um die gleiche Zeit übernahm er zudem auch die Professur der Logik, vielleicht ein Zugeständnis an den Senat, das aber auch seinen eigenen Interessen entgegenkam.
In den 1640er Jahren beschäftigte sich Jungius zweimal sehr intensiv mit aktuellen Forschungsfragen, die ihn weit über Hamburg hinaus blicken ließen. Das war zunächst ein Streit über ein Berechnungsverfahren zwischen dem englischen Mathematiker John Pell und dem dänischen Astronomen und Mathematiker Christen Sørensen Longomontanus und zweitens die Beobachtung des Sterns, der heute als „Mira Ceti“ bekannt ist, des ersten entdeckten veränderlichen Sterns.
Ein schwerer Schlag für Jungius dürfte gewesen sein, dass 1654 sein bester Freund und engster Vertrauter Johann Adolf Tassius starb. Jungius kümmerte sich darum, dessen Bibliothek für das Johanneum anzukaufen und auch, einen Nachfolger zu finden. Auch erwarb Jungius weitere Bibliotheksbestände aus den Nachlässen bekannter Gelehrter und setzte ein Testament auf, dass bestimmte, dass auch seine eigenen Handschriften, Bücher und Sammlungen der Bibliothek des Akademischen Gymnasiums zufallen sollten – mehr dazu im Info-Text über die Geschichte des Nachlasses.
Joachim Jungius starb am 23. Oktober (jul.)/2. November 1657, vermutlich an den Folgen der Verletzungen, die er sich bei einem Sturz zugezogen hatte.
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